Ich erzähle sicher nichts Neues, wenn ich sage: Mit „Corona“ hat sich die Welt mit einem Schlag völlig geändert. Nichts war plötzlich noch so wie zuvor – für jeden einzelnen von uns. Vieles, was wir seither für selbstverständlich nahmen, war nun etwas Besonderes geworden, Prioritäten haben sich verschoben und neue Sorgen entstanden bei vielen von uns. Wenn man aber will, kann man in allem, was einem selbst als „Schicksalsschlagloch“ erscheint, etwas Positives finden. In meinem Fall war es die Tatsache, dass ich mich aufgrund fehlender Sozialkontakte und der massenhaft freien Zeit gedanklich nicht nur mit vielen in den Hintergrund getretenen Menschen und Begebenheiten auseinandergesetzt habe, sondern auch mit mir selbst: mit meinem Körper, meiner Gesundheit und meiner mentalen und physischen Leistungsfähigkeit.
Als passioniertem Sportler, der sich seit 48 Jahren ein Leben ohne Fahrrad nicht mehr vorstellen kann, erschien mir das Wegbrechen sämtlicher Rad-Events und das Verbot, in Gruppen Sport zu betreiben, zunächst wie eine Katastrophe – denn zumindest Letztgenanntes war seither für mich immer die perfekte Möglichkeit gewesen, beruflichen Stress abzubauen, Freunde zu treffen und meine Akkus aufzuladen, während ich das tat, was ich so sehr liebte.
Nun fuhr ich allein. Beruflichen Stress musste ich nicht abbauen, da ich keinen hatte. Die Akkus waren immer voll und meine Freunde traf ich nur noch bei WhatsApp. Erzählen konnte man sich aber nichts, denn keiner hatte etwas zu erzählen. Eine furchtbare Zeit. Ich merkte schnell, dass ich dringend etwas brauchte, worauf ich mich wieder freuen konnte.
Als Anfang April unter den „Bikern“ die ersten Gerüchte kursierten, dass die „RaceAroundAustria–Challenge“ Mitte August womöglich stattfinden darf, kreisten meine Gedanken 24/7 um diesen Hoffnungsfunken. Obwohl es nur Mutmaßungen waren, sah ich mich dort schon am Start auf meinem Rennrad sitzen und begann bereits zu planen, wie ich mich auf dieses Rennen (Einzelzeitfahrt mit Support) vorbereiten könnte – immerhin handelt es sich hierbei um eine Strecke von 560 km, die an einem Stück gefahren werden muss. Eine ganze Nacht durch. Und eine Vorbereitung wäre wichtig. Ich kann schließlich nicht erst am Rennen selbst ausprobieren, ob ich „so etwas“ kann. Am 29. April erhielt ich mit 4 Tagen Verspätung dann das beste Geburtstagsgeschenk, das man mir hätte machen können: die Meldung, dass das Rennen in Österreich stattfindet. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe. Der Frust der vergangenen Wochen war wie weggeblasen und meine Planung wurde konkreter. Mit Blick auf meinen Büro-Kalender stellte ich fest, dass ich am 9. und 10. Juni einen beruflichen Termin in Hamburg hatte. 650 Kilometer von meiner Haustüre entfernt. Die perfekte Gelegenheit! Ich beschloss, am Samstag, den 6. Juni, einfach auf einen Sitz mit dem Fahrrad nach Hamburg zu fahren – durch die ganze Nacht hindurch. Wenn ich es richtig planen würde, dann könnte ich das schaffen. Genau das habe ich getan und erzähle euch hier die ganze Geschichte:
Schritt 1: Da ich in Hamburg nicht nur andere, sondern auch saubere Kleidung brauche, ließ ich von einem Transportunternehmen wenige Tage zuvor einen Koffer bei mir zuhause abholen und ins Hotel am Zielort liefern.
Dann fiel mir ein: "Was, wenn der Koffer nicht ankommt?!" Den Verlust des Rasierapparates und des Schlafanzuges könnte man verschmerzen - aber Zahnbürste, Wechselunterwäsche und Schuhe, in denen man - im Gegensatz zu den Klickpedalschuhen - vernünftig und aufrecht gehen kann? Nee. Das war mir zu riskant. Obwohl ich Schwabe bin, legte ich das Porto für ein "Sicherheits/Backup"-Paket noch drauf. Safety first...
Es geht los! Nur ich mit insgesamt 20 Kg unter mir. Am Samstag, den 6. Juni, machte ich mich nach diesem letzten Abschiedsbild meiner Frau auf den Weg. Im Gepäck nur Trinknahrung, Beleuchtung für die Nachtfahrt und ein paar Ersatzteile...
Der erste Halt: Heilbronn. Zudem das erste Mal die Frage: "Warum tust du das eigentlich?"
Nach 80 Kilometern bereits der erste Platten und ein Sprinter, der kurz darauf neben mir hielt. "Kann ich dir helfen?" (Es gibt so nette Menschen...)
Er hat es sich angesichts meines Vorhabens nicht nehmen lassen, mein Rad mit mir gemeinsam in seiner Werkstatt für die Weiterfahrt fit zu machen.
Pipipause und 15 Uhr-Kaffee in Aschaffenburg am Main.
"Im Westerngrund". 180 Kilometer vom eigenen Bett zuhause entfernt. Im Vergleich zum Bild davor kann ich wieder etwas lächeln.
Die ersten 200 Kilometern waren geschafft, als ich gegen 17 Uhr in Bad Soden einfuhr. Angesichts der noch vor mir liegenden Distanz fragte ich mich kurz nach diesem Bild ein weiteres Mal, ob ich mir da nicht ein bisschen zu viel vorgenommen hatte...
18 Uhr in Birstein: Als Abendessen musste dieser wunderschöne Blick reichen. Hatte ja schließlich keine Zeit...
Ein Schattenselfie bei Freiensteinau ...
Abendstimmung. In diesem Moment war ich einfach nur froh, dass ich es gewagt hatte, wenngleich sich die ersten Ermüdungserscheinungen bereits deutlich bemerkbar machten.
"Läuft gut!" (250km)
Nachts um 2 Uhr an der Tanke hinter Göttingen. Ich war müde. Aber nach 400 km und einem Kaffee gab es kein Zurück mehr.
4:13 Uhr bei Hildesheim. Nicht mehr lange bis zum Sonnenaufgang!
Morgens um 5. Ich versuchte mir vorzustellen, dass die Sonne mich bald wärmen würde. Celle, 6:30 Uhr.
Bin da!!! Kurz nach 12 Uhr.. Schmutzig, aber glücklich und stolz bat ich einen Passanten, am Hafen ein Beweisbild zu schießen.
Alter Elbtunnel. Ich hätte lauter schreien sollen...
Wie ich war, musste noch ein "Alsterwasser" beim "Eier-Carl" sein, bevor ich mich auf den Weg ins Hotel gemacht habe.
Nur, damit ihr Bescheid wisst, was ich da gerade gemacht habe!
Zurück am 11.Juni mit einem one-way-Mietwagen. Bin ja nicht verrückt!
Bei diesem Vorhaben haben mich viele liebe Menschen unterstützt. Ich bedanke mich hiermit insbesondere bei Heuer-Radsport für den genialen Sattel. Mein Popo ist immer noch super in Schuss! Danke auch an Michael für die Beleuchtung. Du hast mich damit sicher durch die Nacht begleitet. Ich möchte mich auch bei allen bedanken, die mich mental begleitet und virtuell angefeuert haben.